Verbändereport AUSGABE 4 / 2010

Selbstregulierung zwischen Gattungsmarketing und Politikgestaltung

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Bei der Betrachtung der Möglichkeiten für Verbände, sich am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen, muss grundlegend mit der Frage begonnen werden, welche Bedeutung ihnen in diesem Kontext zukommt. Daher wird diese Abhandlung mit ebendieser beginnen. Wie sich zeigen wird, ist ein Bestandteil der Aufgaben von Interessengruppen unter dem Begriff „sozioökonomische Selbstregulierung“ zusammengefasst. Der zweite größere Teil wird sich diesem Themenkreis widmen und die Funktionsweisen sowie Vor- und Nachteile von Selbstregulierungsansätzen beleuchten. Bestandteil dieser Auseinandersetzung ist auch eine Bewertung der politischen Relevanz der verschiedenen Ansätze. Dabei wird auch darauf eingegangen, dass neben den verschiedenen Ausprägungen einer sozioökonomischen und damit politisch relevanten Selbstregulierung auch weitere Formen von Selbstregulierung einer Branche existieren.

Generell liegt die Bedeutung von Interessengruppen in der Repräsentation der gesellschaftlichen Vielfalt im Allgemeinen und somit im Falle einer spezifischen Interessengruppe die Vertretung eines Einzelinteresses. Basierend auf den demokratischen Grundprinzipien der Mit- und Selbstbestimmung besitzen Verbände (jenseits ihrer Rolle als Sprachrohr der jeweiligen Einzelinteressen) auch eine Demokratie stützende Funktion. In Anlehnung an Max Weber kommen den Verbänden vier Kernfunktionen zu:

  • Interessenaggregation
  • Interessenselektion
  • Interessenartikulation
  • Interessenintegration

Neben diesen Kernfunktionen kommen den Verbänden aber weitere Funktionen zu:

  • Partizipation
  • Legitimation
  • Sozioökonomische Selbstregulation

Tabelle 1 gibt einen vereinfachenden Überblick über die verschiedenen Funktionen sowie deren Bedeutung für den Verband auf der einen und für das politische System auf der anderen Seite. Wie der Tabelle zu entnehmen ist, bedingen sich die verschiedenen Funktionen größtenteils gegenseitig. So wäre eine Selbstregulation ohne die Einbindung der Mitglieder sowie die Harmonisierung der Interessenlage nicht möglich.

Bis also ein Verband in der Lage ist, auch selbstregulativ für eine Branche tätig zu werden, müssen einige wesentliche Prozesse im Kontext der Interessengenerierung aufgesetzt werden.

Formen der Selbstregulierung

Während in der Funktionsbeschreibung (Tabelle 1) der Begriff der Selbstregulierung sehr eng gefasst ist, sprich von einer Übernahme einer Regulationsfunktion, die eigentlich der Politik vorbehalten ist, wird in diesem Abschnitt zunächst ein weiteres Begriffsverständnis zugrunde gelegt. Dies dient vor allem zur Verdeutlichung der Tatsache, dass nicht nur in politischen Kontexten von einer Selbstregulierung gesprochen werden kann, sondern auch diese beispielsweise in Wettbewerbsumfeldern (ohne politische Implikationen) stattfinden kann.

Dies vorweggeschickt, veranschaulicht die Tabelle 2 gewissermaßen die Evolutionsstufen verbandlicher Arbeit in Bezug auf eine öffentliche Perzeption aus der Sicht der Betroffenheit der Mitglieder.

Zu beachten ist hierbei, dass die Stufen nicht nacheinander ablaufen, sondern durchaus auch parallel existieren können. Allerdings kommt es jeweils zu klaren Ausprägungen der Verbandstätigkeit in den verschiedenen Stufen und einer entsprechenden Bedeutungsverlagerung.

Bei einem weiten Verständnis des Begriffs Selbstregulierung sind in allen Stufen selbstregulatorische Ansätze zu identifizieren. Allerdings unterscheiden sie sich in puncto ihrer Zieldefinition.

Welche Formen von Selbstregulierungen gibt es?

Beim Begriff der Selbstregulierung ist grundsätzlich zwischen einer reinen -Selbstregulierung und einer regulierten Selbstregulierung zu unterscheiden, welche als eine Mischform zwischen einer imperativen Regulierung und einer reinen Selbstregulierung verstanden werden kann.

Imperative Regulierung

Hier wird die Regulierung alleinig vom politischen Entscheidungsträger festgelegt. Diejenigen, die von der Regulierung betroffen sind, haben keinen Einfluss auf die Regulierung und haben die Bedingungen (Ge- und Verbote) schlichtweg zu befolgen. Ebenfalls vom politischen -System wird die Einhaltung der Regulierung bewacht.

Selbstregulierung

Hier hält sich der Staat außen vor, da die gesellschaftlich relevanten -Steuerungsziele durch gesellschaftliche Prozesse selbst erfüllt werden. Auch die Einhaltung der Selbstregulierung ist frei von staatlichen Einflüssen.

Regulierte Selbstregulierung

Wie schon erwähnt, handelt es sich um eine Kombination der beiden oben dargestellten Regulierungsformen. Dabei geht es darum, die Vorteile sowohl von Selbstregulierung als auch von imperativer Regulierung zu nutzen und gleichzeitig aber die Nachteile dieser Regulierungskonzepte auszugleichen. Entweder wird die Regulierung durch Elemente der Selbstregulierung ergänzt oder aber Selbstregulierung wird durch traditionelle, imperative Instrumente unterstützt.

In der Politikwissenschaft ist gegenwärtig noch umstritten, welche Prozesse bereits als Selbstregulierung zu betrachten sind. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass sich selbstregulative Ansätze auch bereits in „normalen“ Marktmechanismen erkennen lassen. Um im Muster der drei verbandlichen Evolutionsschritte zu bleiben, kann es also auch Ansätze einer Selbstregulierung bereits auf der Basis des Gattungsmarketings geben, die sich auf der -Ebene der Standardisierung verfestigen. Von wirklicher Selbstregulierung mit sozio-ökonomischen Regulierungsaspekten kann aber erst gesprochen werden, wenn der Regulierungsgegenstand ein Politikfeld mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz betrifft.

Es können dann folgende Ausgestaltungsformen der Selbstregulierung unterschieden werden:


- Allgemeine Verhaltensregeln: Die Verständigung verschiedener Akteure auf verbindliche Handlungsrichtlinien oder Verhaltensregeln (beispielsweise in Form von Kodizes) tritt schon am Übergang zwischen Gattungsmarketing hin zu Standardisierungsbestrebungen auf. Dabei werden oftmals Regelungen getroffen, die verbindliche Standards definieren und damit den Zugang zu oder die Orientierung in einem Marktsegment erleichtern.


- Gütesiegel: Bei Gütesiegeln wird in Ergänzung zu den Verhaltensregeln dargestellt, dass man sich als Gütesiegelinhaber den Verhaltensregeln unterwirft. Oftmals wird dann auch eine Prüfinstanz akzeptiert, die die Einhaltung der Verhaltensregeln überprüft. Gütesiegel sind demnach klassisches Zeichen erfolgreicher Standardisierungsprozesse (beispielsweise DIN oder ISO) und gelten auch als Zeichen einer entsprechenden Anbieterqualität. Ziel der Gütesiegel ist es, den Adressaten von mehr Transparenz und Glaubwürdigkeit zu überzeugen.


- Alternative Streitbeilegung (Alternative Dispute Resolution – ADR): Bei branchenweit gültigen Verfahren wird oftmals als vertrauensbildende Maßnahme eine „Trusted Third -Party“ als neutraler Vermittler eingesetzt. Hierbei wird das Gütesiegel durch eine Aufsicht aufgewertet, bei der es festgeschriebene (außergerichtliche) Streitschlichtungsverfahren gibt. Ziel ist es, vor allem durch Kooperation und Kommunikation, den Disput zwischen Beschwerdeführer und Siegelinhaber einvernehmlich beizulegen. Aber auch diese Stufe beschäftigt sich oftmals mit der Regulierung von Marktmechanismen, ohne dass hierbei gesellschaftsrelevante Aspekte verhandelt werden.


- Selbstregulierungsorganisation (SRO): Die Basis einer SRO bilden ausverhandelte und von allen Parteien akzeptierte Selbstverpflichtungen, Gütesiegel und/oder ADR-Maßnahmen. Die SRO fungiert als Trusted Third Party und nimmt eine Weichenstellung zwischen Industrie, Öffentlichkeit und Politik ein, in dem sich nicht der positiven Entwicklung des Marktes unterworfen ist, sondern der Problemlösung des in ihr behandelten Politikfeldes.

Zur Orientierung zeigt die Abbildung 1 eine grobe schematische Orientierung der Selbstregulierungsmaßnahmen anhand der Evolutionsstufen.

Die Größe der Darstellung soll ein Indikator für die Bedeutung im Sinne des Einflusses auf die Politikgestaltung sein. Demnach kommt der SRO der größte Einfluss zu. Es zeigt sich aber auch, dass die anderen Formen in eine SRO einfließen können.

Bedeutung einer SRO für die Politikgestaltung

Überspitzt formuliert, tritt die Politik in Fragen der Selbstregulierung erst bei allgemeinen sozioökonomischen Fragestellungen auf den Plan – beispielsweise bei Datenschutzfragen. Oder aus Verbandssicht betrachtet: Alle nicht politisch relevanten Fragestellungen können problemlos in reinen Formen der Selbstregulierung seitens eines Verbandes geregelt werden, sofern sich die Marktkräfte nicht bereits entsprechend regulieren.

Bei der Bedeutungsbemessung muss erwähnt werden, dass das politische System im 21. Jahrhundert weniger von Hierarchien geprägt ist, sondern vielmehr von kooperativen Ansätzen (Governance-Ansätzen). Dabei versteht sich das politische System zunehmend als Verhandlungsplattform mit Letztentscheidungskompetenz. Allerdings gelangt der Staat auch vor diesem veränderten Hintergrund oftmals an seine eigene Leistungsgrenze und kann seinen Steuerungsanspruch nicht umsetzen. Dies liegt nicht nur in der zunehmenden Anzahl an Regelungsbedarfen begründet, sondern auch in sich verändernden Rahmenbedingungen. Beispielsweise kommt es in vielen Bereichen zu einer Deterritorialisierung des Rechts, sodass das nationale politische System den unterschiedlichen Parteien keine adäquate Lösung mehr anbieten kann.

Demnach liegt in Selbstregulierungsorganisationen eine Möglichkeit für das politische System, seinen eigenen Steuerungsanspruch entweder zu delegieren (unregulierte/freie Selbstregulierungen) oder aber in einer regulierten Selbstregulierung wahrzunehmen. Steuernd eingreifen wird der Staat jederzeit können, da er immer das Recht des Letztentscheiders besitzt. Dieses besitzt er auch, wenn die Selbstregulierung in einem internationalen Kontext stattfindet.

Im Sinne einer Maximierung von Möglichkeiten der Interessenvertretung muss ein Verband gehalten sein, die für ihn relevanten Politikbereiche durch eine unregulierte Selbstregulierung bearbeiten zu können, da andernfalls die Kompromisse zu groß sein könnten und der Verband Gefahr läuft, seinen eigenen Repräsentationsanspruch einzubüßen. Anders die Ausgangslage für die Politik: Hier müsste der Fokus auf regulierten Selbstregulierungen liegen. Denn nur so kann ein maximaler Interessenausgleich vor der Prämisse, eine System-überforderung zu verhindern, gewährleistet werden.

Dennoch gibt es oftmals auch reine Selbstregulierungen in politisch sensiblen Bereichen. Dies funktioniert, wenn die Sanktionsmechanismen derart strikt sind, dass der Sanktionierte massive Marktnachteile erfahren würde, die in keinem Verhältnis zu den punktuellen Gewinnen stehen. Die Politik wiederum erkennt darin, dass innerhalb der Branche eine entsprechende Sensibilisierung hinsichtlich sämtlicher zu berücksichtigender Interessen stattgefunden hat und ein Eingreifen nicht notwendig ist. Das Recht, dies im Falle des „Scheiterns“ der SRO zu tun, hat die Politik dadurch nicht verwirkt.

Für Verbände bedeutet dies, dass auch sie sich im Sinne der Governance-Konzepte als kooperativer Akteur verstehen müssen. Die Konzepte der Selbstregulierung als Instrument der politischen Interessenvertretung dienen demnach nicht zur Interessendurchsetzung (fehlende Harmonisierung mit relevanten anderen Interessen), sondern als Instrument der Politik(mit)gestaltung auf Augenhöhe.

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