Die gegenwärtige Eiszeit zwischen der Bundesregierung und den deutschen Wirtschaftsverbänden verdeckt den langfristigen, grundlegenderen Wandel, in dem sich die wirtschaftspolitische Interessenvertretung in Deutschland befindet. Der verschärfte Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit und Veränderungen im legislativen Umfeld stellen die Verbände vor große Herausforderungen. Dies bestätigt die Umfrage Verbände im Wettbewerb der Berliner Public Affairs-Beratung PLATO Kommunikation unter 200 Spitzenvertretern deutscher Haupt-, Dach- und Branchenverbände.
Tischtuch zerschnitten?
„Handlanger und Helfershelfer der Opposition“, „Fünfte Kolonne“, „Kettenhunde“ — so schallte es in der Hochzeit des Bundestagswahlkampfes 2002 aus dem Kanzleramt. Und das nicht ohne Grund: Die grosen Dachorganisationen der deutschen Wirtschaft (BDI, BDA, DIHK) hatten vernehmbar für einen Regierungswechsel geworben. Allerdings: Schröder gewann die Wahl, die Wirtschaft fand sich auf der Seite der Verlierer wieder. Koalitionsvertrag, Regierungserklärung und die rot-grüne Steuerpolitik besorgten das Übrige: Das Tischtuch zwischen der Regierung und den deutschen Wirtschaftsverbänden — den kleinen wie den grosen — schien in den Wochen nach der Wahl endgültig zerrissen.
Doch gibt es Anzeichen dafür, dass es dabei nicht bleiben wird. Denn beide Seiten wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Die Regierung braucht die Verbände, um fachlichen Rat einzuholen und ihre Entscheidungen gegenüber der Wirtschaft zu legitimieren. Und die Verbände brauchen den direkten Draht zur Exekutive, um wirksame Interessenvertretung an der Gesetzgebungsquelle betreiben zu können. Was geschieht, wenn die Streithähne in ihren Schützengräben verharren, anstatt gemeinsam nach tauglichen Regelungen zu suchen, illustriert das Ringen um das Dosenpfand: Die Industrie ging auf die Barrikaden — das Pfand kommt doch.
Auch im Lichte solcher Negativerfahrungen gibt es erste Zeichen einer zaghaften Wiederannäherung. Unlängst bedachten BDA-Präsident Hundt und Superminister Clement auf dem Deutschen Arbeitgebertag einander mit anerkennenden Worten und streng sachlicher Kritik. Zuvor schon besuchten die Spitzen der großen Verbände Finanzminster Eichel. Und zuletzt kam es sogar zwischen dem Kanzler und BDI-Chef Rogowski zum Händedruck.
Handlungsbedarf erkennen
Je mehr sich der Pulverdampf legt, desto stärker sollten die Verbände allerdings ihr Augenmerk auf die tiefer liegenden Veränderungen sowohl in ihrem Innern als auch in ihrem Umfeld richten — und darauf reagieren. Dass Handlungsbedarf besteht und dieser in den Verbandsorganisationen erkannt wird, belegt die jüngst vorgelegte Umfrage von PLATO Kommunikation, in der hochrangige Verbandsrepräsentanten die neuen Herausforderungen für die wirtschaftspolitische Interessenvertretung bewertet haben. Die Einflussnahme auf Regierungshandeln wird, so das Fazit, in drei Bereichen schwieriger: Erstens nimmt die Bedeutung der Medien für die Verbandstätigkeit rapide zu, wobei es gleichzeitig immer schwieriger wird, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Zweitens führen Konjunkturkrise und Internationalisierung, aber auch Konzentrationsprozesse und Regulierungsdichte zu einer veränderten Anspruchshaltung der Unternehmen gegenüber den Verbänden. Und drittens stellt die Verlagerung von politischen Entscheidungen auf die EU-Ebene die Verbände vor die Herausforderung, bestehende Ressourcen umzulenken und neue Kompetenzen aufzubauen.
Mangelware Medienpräsenz
Den Unternehmensverbänden — das bestätigt die überwältigende Mehrheit der Verbandsführungen (insgesamt 92 Prozent) — bläst der kalte Wind des Wettbewerbs um öffentliche Wahrnehmung und mediale Präsenz ins Gesicht (siehe Chart 1). Das liegt zum einen an der insgesamt wachsenden Zahl gesellschaftlicher Gruppen, die über die Medien Gehör zu finden versuchen. Zum anderen aber liegt es an der Konkurrenz unter den Verbänden selbst. Da das Angebot an Platzierungsmöglichkeiten jedoch nicht im gleichen Maße wie die Nachfrage wächst, sondern sogar schrumpft, gleicht das Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit einem Nullsummenspiel — die Schlagzeile des einen bedingt die Nichtpräsenz des anderen. Erschwerend kommt hinzu, dass es wegen der zunehmenden Komplexität wirtschaftspolitischer Themen immer schwerer wird, die breite Bevölkerung zu erreichen.
Dabei ist gerade sie es, über die Verbände öffentlichen Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben versuchen. 37 Prozent der Befragten erachten es als „wichtig“ und 55 Prozent gar als „sehr wichtig“, die Medien bewusst und strategisch zu nutzen, um Verbandsanliegen bekannt zu machen und für sie zu werben (siehe Chart 4). Allerdings dürften die großen, etablierten Verbände den Weg über die Medien eher als Ergänzung zu politischen Direktkontakten nutzen. Für die wachsende Zahl kleiner, spezialisierter Verbände dagegen sind Presse, Funk und Fernsehen oft die einzige Möglichkeit, um Themen zu platzieren und Interessen wirksam zu Gehör zu bringen.
Suche nach schärferem Profil
Wie können sich die Verbände in diesem rauheren Klima behaupten? Eine übergroße Mehrheit von insgesamt 95 Prozent der Befragten sieht die Notwendigkeit, dass Verbände sich ein eigenständiges, unverwechselbares Image geben (siehe Chart 3). Der Trend zur Markenbildung hat, so scheint es, nach den Unternehmen nun auch die Verbände erreicht. Um die Präsenz und Wiedererkennbarkeit ihrer Botschaften zu sichern, müssen diese sich um den Aufbau eines klar abgrenzbaren Profils bemühen. Allerdings setzt die Erlangung einer solchen Alleinstellung eine deutliche Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit und die offensive Nutzung neuer Kommunikationsinstrumente voraus. Wiederum gilt dies in besonderer Weise für kleine und neue Verbände, deren Anliegen andernfalls unterzugehen drohen.
Unternehmen wollen Leistung
Neben den Untiefen des medialen Umfeldes sind die deutschen Wirtschaftsverbände auch von vielschichtigen internen Veränderungen betroffen. Das Verhältnis der Unternehmen zu ihren Fach-, Branchen- und Dachverbänden ist im Wandel, lautet ein weiteres Ergebnis der PLATO-Untersuchung. Die große Mehrheit der befragten Verbandsspitzen spürt einen gestiegenen Erwartungs- und Anforderungsdruck: 29 Prozent bewerten die These, dass die Mitgliedsunternehmen sichtbar bessere Leistungen von ihren Verbänden erwarten, mit „trifft zu“ und gar 64 Prozent mit „trifft voll zu“ (siehe Chart 2). Die Unternehmen stellen in konjunkturellen Krisenzeiten alle Ausgaben auf den Prüfstand — zuerst und besonders die, die nicht das operative Kerngeschäft betreffen. Für ihre Mitgliedsbeiträge erwarten die Unternehmen deshalb einen klaren „Return on Investment“, also die wirkungsvolle, messbare Einflussnahme auf Regierungshandeln und die effektive Interessenvertretung gegenüber Parlamentariern. Die Verbände sind also gefordert, ihr Preis-Leistungs-Verhältnis dem strikten Kostenregiment ihrer Klientel anzupassen — auch deshalb, weil sonst die Gefahr besteht, dass sich junge Unternehmen gegen eine Mitgliedschaft entscheiden.
Das stärker von Kosten-Nutzen-Denken und nüchterner Kalkulation geprägte Verhältnis der Unternehmen zu ihren Verbänden hat seine Ursache jedoch nicht nur in der schlechten konjunkturellen Lage. Hinzu kommt, dass hiesige Firmen zunehmend in internationale Konzernstrukturen eingebunden sind. Das verändert den Horizont und lässt den Blick weit über die deutschen Grenzen hinaus reichen — die Überzeugung, dem heimatlichen Branchen- oder Spitzenverband verpflichtet zu sein, schwindet. Da passt es ins Bild, dass Unternehmen ihre Interessen zunehmend direkt gegenüber Regierungsführung, Ministerialbürokratie und Parlament artikulieren. Die Hälfte der befragten Verbandsrepräsentanten erachtet es als kritische Herausforderung, dass zumindest einige Mitgliedsfirmen ihren Vertretungen das Monopol auf Kontakte zur Politik streitig machen und individuelles Lobbying betreiben (siehe Chart 5). Allerdings stehen 28 Prozent der Verbandsspitzen diesem Phänomen neutral gegenüber. Und 22 Prozent sehen in dem Trend kein Problem für ihre Organisation.
Ein Blick in Berlins Mitte liefert die mögliche Erklärung für die geteilte Wahrnehmung: Zwar öffnen im Regierungsviertel fast täglich neue Unternehmensrepräsentanzen ihre Pforten. Aber es handelt sich durchweg um diejenigen großer, finanzstarker und global operierender Firmen. Nur sie verfügen über die Ressourcen, um direkte Interessenvertretung vor Ort zu betreiben. Verbände dagegen, deren Klientel aus kleineren Firmen oder Mittelständlern besteht, scheinen von der Entwicklung kaum betroffen zu sein.
Unterschiedliche Interessen
Auch die zunehmende Regulierungsdichte und die fortschreitende Branchendifferenzierung erschweren es den Fachverbänden zusehends, die Interessen aller Mitglieder zu bündeln und einheitliche, schlagkräftige Anliegen zu formulieren. Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind naturgemäß die Spitzen-, Dach- und Hauptverbände, die eine ungleich größere Integrationsleistung zu erbringen haben. Diese Frage beschäftigt auch die befragten Verbändevertreter. 53 Prozent von ihnen sehen in der Flut von Einzelregeln, den komplexen Problemlagen und spezialisierten Wirtschaftsthemen eine Gefahr für die wirksame Interessenvertretung durch Spitzenverbände. Sie bejahen zudem das Risiko, dass dadurch die Stellung der Gesamtwirtschaft gegenüber der Politik latent geschwächt wird (siehe Chart 6). Doch ist das Bild geteilt: 28 Prozent betrachten die Entwicklung nicht als Problem und immerhin ein knappes Fünftel (19 Prozent) sieht keine negativen Folgen für die Durchschlagskraft gesamtwirtschaftlicher Anliegen.
Steiniger Weg nach Brüssel
Schwieriges Medienumfeld, notwendiger Imageaufbau, wachsende Ansprüche der Mitglieder, selbständige Interessenvertretung durch große Unternehmen: Die deutschen Branchen- und Dachverbände stehen vor neuen, zum Teil großen Herausforderungen. Hinzu kommt, dass sich die organisierte Interessenvertretung auf die fortschreitende Verlagerung von politischen Verfahren und Gesetzgebungskompetenzen auf die Europäische Union (EU) einstellen muss. Zwar führen noch nicht alle Wege nach Brüssel, aber immer weniger führen daran vorbei. Gut zwei Drittel der befragten Verbänderepräsentanten (insgesamt 67 Prozent, siehe Chart 7) äußern, dass schon heute mindestens 40 Prozent der für sie relevanten Entscheidungen in Brüssel getroffen werden — organisatorisch ebenso wie logistisch eine große Umstellung. Denn es bedeutet, dass die Verbände bestehende Ressourcen an den Sitz der europäischen Institutionen umlenken oder dort neue Einflusskanäle installieren müssen. Um ihre Interessen in Kommission, Rat oder Parlament zur Geltung zu bringen, sind sie gefordert, sich auf andere politische Kulturen, schwerer erreichbare Adressaten und oft intransparente Entscheidungsverfahren einzustellen.
Mehr als die Hälfte der Verbandsspitzen (55 Prozent, siehe Chart 8) bemängelt, dass die politischen Abstimmungsprozesse in Brüssel verdeckt ablaufen und schwer nachzuvollziehen sind — dass also Einflussnahme an den entscheidenden Stellen schwierig oder gar unmöglich ist. Die erprobten und bewährten Wege, die auf nationaler Ebene zum Informationsaustausch und zur Interessenvertretung genutzt werden, enden augenscheinlich für einen Teil der Verbände oft noch vor verschlossenen Brüsseler Türen. Doch ist das Bild uneinheitlich. Für insgesamt 45 Prozent der Verbände ist Brüssel keine „Black Box“: 20 Prozent mögen sich nicht eindeutig für oder gegen die These von der Intransparenz entscheiden, und 23 Prozent haben keine Probleme mit unklaren Entscheidungsverfahren und stockenden Informationsflüssen (siehe Chart 7). Für 2 Prozent der Verbände wiederum trifft das Diktum vom „Moloch Brüssel“ dagegen überhaupt nicht zu.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Art der Präsenz vor Ort: Die weit überwiegende Mehrzahl der deutschen Verbände wählt den Weg über nationale (25 Prozent) oder europäische (50 Prozent) Dachorganisationen, um an die Kommission als wichtigste Adressatin organisierter Interessenvertretung heranzutreten (siehe Chart 9). Ein gutes Viertel (22 Prozent) unterhält dagegen bereits eigene Vorposten in Brüssel, während lediglich einer unter hundert Verbänden professionelle externe Dienstleister einschaltet. Dass zwei Prozent der Befragten ihre Anliegen gar nicht bei der Kommission vorbringen, deckt sich mit dem Befund, dass für einige wenige Branchen die EU-Gesetzgebung nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielt (siehe Chart 7).
Herausforderungen annehmen
Was folgt nun aus der Diagnose gewichtiger neuer Herausforderungen für die deutschen Einzel-, Dach- und Spitzenverbände? Zunächst gilt: Die deutschen Verbände erfüllen elementare, ja unersetzliche Aufgaben im Zusammenspiel von Unternehmen und Regierung, von Wirtschaft und Politik. Sie leisten Übersetzerdienste und übernehmen Vermittlungsfunktionen. Sie aggregieren die Interessen ihrer Mitglieder und tragen die Anliegen in die Politik und die Öffentlichkeit. Sie wirken an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung mit und spielen eine prominente Rolle bei der Umsetzung sowie der Legitimation gefasster Beschlüsse. Daneben bieten sie ihren Mitgliedsunternehmen in vielfältigen Situationen Unterstützung und Information. Nicht zuletzt vertreten sie deutsche Unternehmens- und Wirtschaftsinteressen im Ausland.
Betrachtet man diesen Aufgabenkatalog und zugleich den enormen wirtschaftspolitischen Reformbedarf in Deutschland, so lässt sich unschwer behaupten: Nie waren die Wirtschaftsverbände so wichtig wie heute. Allerdings werden sie die von ihnen beanspruchte und ihnen zugedachte Rolle nur dann weiterhin ausfüllen können, wenn sie die veränderten Rahmenbedingungen einkalkulieren, ihre Strategien daran ausrichten und sich selbst durchgreifend reformieren. Andernfalls geraten die Verbände in die Gefahr, in einem Umfeld, dem sie mit einiger Berechtigung Reformmüdigkeit attestieren, vom Teil der Lösung zum Teil des Problems zu werden. Wenn sie hingegen die neuen Spielregeln in Wirtschaft, Politik und Medien verinnerlichen und im eigenen Sinne nutzen — dann haben sie alle Chancen, bei der Modernisierung des Landes an vorderster Front mitzuwirken.