Verbändereport AUSGABE 4 / 1996

Was sind Verbände?

Wie, wann und warum entstanden Verbände? / Die Vielfalt der Verbände / Handlungsfelder der Interessenverbände / Innenleben der Verbände / Aktionsformen der Verbände / Verbände im Blick von Wissenschaf

Logo Verbaendereport

Der Wecker klingelt. V. Erband wacht auf. Er geht ins Badezimmer, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen, und freut sich über die neue Sanitärausstattung. Das Wasser ist mal wieder viel zu kalt! Er zieht sich an und überlegt dabei, ob seine leichte Bekleidung wohl ausreichen wird. Beim Frühstück genießt er Fruchtsaft und ein frisches Brötchen. Er schlägt die Zeitung auf und wirft einen Blick auf die Überschriften: Streik in der Metallindustrie! Greenpeace besetzt Mülldeponien! Rotes Kreuz sucht Blutkonserven! Bauernverband fordert Entschädigungen wegen Frost!

Nachdenklich schlägt Herr V. Erband die Zeitung wieder zu. Verbände allerorten: Sie fordern, schlagen vor, mahnen, informieren, schützen, drohen, besetzen, versprechen, beeinflussen, unterstützen, klagen oder begrüßen. Sie begleiten uns von der Geburt (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) bis zum Friedhof (Bund deutscher Friedhofsgärtner), bei der Arbeit und in der Freizeit, von der Gemeinde bis zur UNO, von morgens bis abends: beim Aufstehen, Waschen, Ankleiden, Frühstücken, während der Fahrt zum Dienst, am Arbeitsplatz, in der Familie, bei Hobby und Spiel, bei Weiterbildung und Urlaub. Fast alles ist organisiert und verbandlich abgestützt.

Wir leben in einer organisierten Gesellschaft, ohne dabei immer darauf zu achten, daß wir ständig von Verbänden umgeben sind. Es wird einem jedoch schnell bewußt, wenn man sich bei der Zeitungslektüre oder den Fernsehnachrichten, am Arbeitsplatz oder beim Einkaufen, in der Freizeit oder in der Familie nicht nur fragt, welche Verbände oft genannt werden, sondern auch überlegt, ob es irgendeinen Bereich oder eine private Tätigkeit gibt, um die sich kein Verband kümmert. Die Prognose sei gewagt, daß es schwer sein dürfte, fündig zu werden.

Wer zählt die Verbände, nennt die Namen, könnte man - in Abwandlung eines Zitats von Friedrich Schiller - sagen angesichts der Begriffsvielfalt. Neben Interessenverbänden und -vereinigungen finden sich Interessengruppen, Interessenorganisationen oder organisierte Interessen, Lobby (abgeleitet von der Lobby, der Eingangshalle der Parlamente, wo Interessenvertreter versuchen, Abgeordnete zu beeinflussen) und Pressure-groups (Druck ausübende Gruppen).

Schaut man sich einmal die Namen an, die sich die Verbände selbst gegeben haben, wird die Vielfalt noch größer. Ein Blick in die "Lobbyliste" des Deutschen Bundestages zeigt das ganze ABC von der Aktion, der Arbeitsgemeinschaft und dem Arbeitskreis über den Bund und den Bundesverband, den Club oder den Convent, den Dachverband, den Fachverband, den Förderkreis, das Forum weiter zu den Gewerkschaften, Gesellschaften und dem Gesamtverband der Hauptarbeitsgemeinschaft und dem Hauptverband bis hin zum Zweckverband organischer und mineralischer Düngemittel e.V.

Verbände sind Organisationen

Um angesichts der Vielfalt der Verbände eine Übersicht zu schaffen, beginnen wir mit der Feststellung, daß es sich bei Verbänden um Organisationen handelt. Organisationen sind noch viel allgegenwärtiger als Verbände, denn jede Verwaltung, jedes Krankenhaus, jede Firma, Schule oder Armee, jeder Konzern oder jede Kirche ist eine Organisation. Der Soziologe Günter Büschges hat das plastisch formuliert: "In Organisationen oder in engem Kontakt mit ihnen verbringt der einzelne als Mitglied, Klient oder Kunde oder in anderer Weise Betroffene einen wesentlichen Teil seines Lebens. In Organisationen wird er geboren, erzogen, gebildet und ausgebildet, verwahrt und umerzogen. Von Organisationen wird er versorgt, betreut, gestützt und kontrolliert. In Organisationen übt er seinen Beruf aus und geht er seiner Arbeit nach, verdient er seinen Lebensunterhalt und macht er Karriere - oder auch nicht. In Organisationen erfährt er aber auch, was Kooperation und Konflikt, was Status und Prestige, was Herrschaft und Abhängigkeit, was Fremd- und Selbstbestimmung, was Schicht- und Klassenzugehörigkeit bedeuten."

Jede Organisation ist eine arbeitsteilig aufgebaute Ordnung von Gruppen und Personen, die gemeinsam, freiwillig (oder auch nicht, denn auch Gefängnisse sind Organisationen) bestimmte Zwecke oder Ziele verfolgen. Meistens besitzen Organisationen ein Regelwerk - Satzung, Verfassung oder Statut - und ein Programm mit ihren Zielen und Grundsätzen. Freundesgruppen, Käufergruppen, Zuschauermassen und politische Demonstrationen sind demnach keine Organisationen, denn sie sind sozusagen naturwüchsig oder auch spontan entstanden ohne eine dauerhaft verbindliche Form.

Teil des "Dritten Sektors"

In der jüngeren sozialwissenschaftlichen Forschung wird die Gesamtheit aller Organisationen wie ein Kuchen in drei Sektoren eingeteilt. "Erster Sektor" wird der Staat genannt, das heißt alle staatlichen Institutionen, wenn sie hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Dies sind beispielsweise Parlamente, Regierungen, Verwaltungen, Justiz, aber auch alle anderen öffentlichen Einrichtungen, wie Schulen, Theater oder Museen. Als "Zweiter Sektor" wird der Markt bezeichnet, das heißt alle Organisationsformen, die wirtschaftlichen und Erwerbszwecken dienen wie Konzerne, Unternehmen, Firmen oder sonstige kommerzielle Veranstaltungen.

Dann bleibt das übrig, was "Dritter Sektor" genannt wird: Der Bereich zwischen Markt und Staat, in dem es weder in erster Linie um Gewinn und Konkurrenz noch um hoheitliche Verwaltung geht. Der "Dritte Sektor" bezeichnet das weite Feld der Vereinigungen, Gesellschaften, Vereine und Verbände. Die meisten Vereinigungen im "Dritten Sektor" sind "Non-Profit-Organisationen" (NPO). Sie sind nicht am Gewinn orientiert im Gegensatz zu den am Markt orientierten Unternehmen. Und sie gehören zu den "Nicht-Regierungs-Organisationen" (NRO, engl. NGO: Non-Governmental-Organizations), die heute national und international eine immer wichtigere politische Rolle spielen (zum Beispiel Greenpeace, amnesty international oder World Wildlife Fund). Auf den großen UNO-Konferenzen der neunziger Jahre zur Umwelt in Rio, zu Sozialfragen in Kopenhagen oder zur Frauenpolitik in Peking waren deshalb Verbände aus dem Bereich der "NRO" prominent vertreten.

Der gesamte Bereich des "Dritten Sektors" umfaßt aber noch mehr als die eigentlichen Interessenverbände, die uns hauptsächlich interessieren. Verwandte Organisationsformen, weil sich Aufgaben und Arbeitsweise teilweise überschneiden, sind etwa Parteien, die Vereine, Kammern und Kirchen.

Um Unterschiede zwischen diesen Organisationen klarzustellen und das Besondere der Interessenverbände hervorzuheben, ist es notwendig, zunächst einen Blick auf die rechtliche Stellung der Verbände zu werfen.

Gesetzliche Bestimmungen

Die Worte "Verbände" oder "Interessengruppen" kommen im Grundgesetz (GG) nicht vor, statt dessen spricht es im einschlägigen Artikel 9 von "Vereinen", "Gesellschaften" und "Vereinigungen". Vereinigung ist rechtlich der Oberbegriff. Der Artikel 9 des Grundgesetzes lautet:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider laufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.

(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. [...]

Artikel 9 Absatz 1 enthält das Grundrecht der allgemeinen Vereinigungsfreiheit. Sie umfaßt die Gründungsfreiheit sowie die Freiheit des Bei- und Austritts sowie das Recht, Satzungen zu erlassen.

Nach dem Vereinsgesetz ist unter einem Verein ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung zu verstehen, zu der sich eine Anzahl von Einzelpersonen oder Personengruppen (juristische Personen) für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen haben. Neben den Vereinen sind in Absatz 1 auch Gesellschaften genannt um klarzustellen, daß auch Gesellschaften des bürgerlichen und des Handelsrechts (OHG, KG, GmbH, AG) den Schutz des Grundrechts der allgemeinen Vereinigungsfreiheit genießen.

In Absatz 2 ist bestimmt, daß Vereinigungen verboten sind, die gegen Strafgesetze, Verfassung oder Völkerverständigung verstoßen. Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit steht nur Deutschen zu. Es ist also folglich kein Menschen-, sondern ein Bürgerrecht.

Von der Vereinigungsfreiheit zu unterscheiden ist die in Artikel 9 Absatz 3 GG geregelte Koalitionsfreiheit. Sie gewährleistet "jedermann", also nicht nur allen Deutschen, "das Recht, zur Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden". Dieses Recht gilt "für alle Berufe". Weiter heißt es: "Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. [...]." Die Koalitionsfreiheit bezieht sich vor allem auf die Gründung und den Bestand von Organisationen, die auf die kollektive Gestaltung des Arbeits- und Wirtschaftslebens gerichtet sind. Geschützt werden daher insbesondere die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände. Ebenso geschützt wird die ihnen zustehende Tarifautonomie. Darunter ist das Recht dieser Organisationen zu verstehen, ohne staatliche Einmischung die Lohn- und Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen festzulegen. Auf die Ausprägungen der Koalitionsfreiheit wird noch einmal näher bei der Darsllung der Vereinigungen des Arbeits- und Wirtschaftslebens eingegangen.

Für politische Parteien gilt die Sonderregelung des Artikel 21. Danach wirken sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Das bedeutet zweierlei: Zum einen werden die Parteien herausgehoben als die einzigen besonders erwähnten Organisationen der politischen Willensbildung; zum andern wird dies gleichzeitig wieder etwas abgeschwächt, weil das Grundgesetz eben nur von Mit-Wirkung spricht. Auf diese Rolle als ungenannte weitere Mitwirker an der politischen Willensbildung können sich die Interessenverbände berufen, wenn sie die Politik zu beeinflussen versuchen (zur besonderen Situation der Parteien vgl. "Informationen zur politischen Bildung" Nr. 207 zum Thema "Parteiendemokratie").

Eine weitere Gruppe von Vereinigungen, die im Grundgesetz Erwähnung findet, sind die Kirchen. Dazu verweist das Grundgesetz in Artikel 140 auf das Weitergelten von Artikeln der Weimarer Reichsverfassung, wo beispielsweise dort in Artikel 137 zu Religionsgesellschaften steht:

[...] (2) "Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet [...]

(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. [...]

(7) Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen."

Die Kirchen, die damals "Religionsgesellschaften" genannt wurden, werden also durch die Übernahme der Weimarer Regelung besonders hervorgehoben, allerdings auch mit Vereinigungen gleichgestellt, die gemeinschaftlich eine Weltanschauung pflegen wollen.

Im Grundgesetz ist auch Artikel 19, Absatz 3 bedeutsam, nach dem die Grundrechte auch für "inländische juristische Personen" gelten können, damit sind auch Verbände eingeschlossen. Sie können also Träger von Grundrechten sein und beispielsweise den Gleichheitsgrundsatz oder die Meinungsfreiheit beanspruchen wie jede einzelne Person.

Die Verbände kennen zwar keine den Parteien vergleichbare gesetzliche Verbändefinanzierung, sie kommen aber ebenfalls in den Genuß staatlicher direkter und indirekter Zuwendungen. Wenn die Gemeinnützigkeit von Verbänden anerkannt wurde, was bei den meisten Vereinigungen aus dem Sozial-, Kultur- und Gesellschaftsbereich der Fall ist, dann kann nahezu unbegrenzt steuerabsetzungsfähig gespendet werden - im Gegensatz zu den Parteien, wo der Abzugsfähigkeit von Spenden, die ab einer bestimmten Größe auch namentlich veröffentlicht werden, enge Grenzen gesetzt sind. Obwohl in den siebziger Jahren wiederholt ein Verbändegesetz - insbesondere aus den Reihen der FDP und Teilen der CDU/CSU - gefordert wurde, um die Rechte der Verbände ähnlich klar zu regeln, wie die der Parteien, ist es nicht dazu gekommen. Alle Verbände waren sich in ihrer Ablehnung eines solchen Gesetzes einig, von dem sie eine Einschränkung ihrer Freiheit befürchteten.

Bürgerliches Gesetzbuch

Das eigentliche Recht der Vereinigungen ist nicht im Grundgesetz und auch nicht in einem Verbändegesetz, sondern im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt. Der übergreifende Rechtsbegriff ist dort der Verein, der auch Verbände mit umfaßt. Das kann manchmal etwas verwirren, weil es sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch im Verständnis der Sozialwissenschaften nahezu umgekehrt ist: dort ist der Verein die kleine lokale Einheit, zum Beispiel der Schützenverein, während der Verband eher übergreifend ist, zum Beispiel der bundesweite Schützenverband.

Das BGB enthält in seinem vereinsrechtlichen Teil in den §§ 21 bis 79 eine Reihe von Vorschriften zu Aufbau, Gliederung und Mitgliederrechten. So wird beispielsweise in § 26 vorgeschrieben, daß der Verein einen Vorstand haben muß, der nach § 27 durch Beschluß der Mitgliederversammlung, also der demokratischen Basis, eingesetzt wird. § 32 sieht für die Beschlußfassung die Mehrheit der Mitgliederversammlung vor; Satzungsänderungen verlangen die Zustimmung von einer Dreiviertelmehrheit; zur Änderung des Vereinszwecks müssen alle Mitglieder zustimmen. § 37 schützt die Minderheit, da bereits ein Zehntel der Mitglieder die Einberufung einer Mitgliederversammlung verlangen kann.

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch gibt es also bestimmte Anforderungen, die der demokratischen Basis von Vereinen und Verbänden wichtige Rechte einräumen. Allerdings stellt das BGB nur gewisse Mindestanforderungen auf. Darüber hinaus hat ein Verein im Rahmen der Vertragsfreiheit Gestaltungsspielraum. Nach § 40 finden daher bestimmte Vorschriften "insoweit keine Anwendung, als die Satzung ein anderes bestimmt". So hilft das BGB, das ursprünglich in Zeiten des bürgerlichen Geselligkeitsvereins von 1896 geschrieben worden war, bei der Organisierung komplizierter innerverbandlicher Willensbildung bei Großverbänden mit Millionen Mitgliedern heute nicht viel weiter. Andererseits hat sich aber das Vereinsrecht als ein so flexibler Rahmen erwiesen, daß eine grundlegende Änderung bisher nicht notwendig erschien.

Das BGB hilft durch die Bereitstellung einer klaren Rechtsform für Vereinigungen und damit auch Verbände in Form des "eingetragenen Vereins" (e.V.). Man benötigt nur sieben Gleichgesinnte, eine Satzung, die den Zweck des Vereins enthalten muß, und ein Programm, um beim Amtsgericht gegen geringe Gebühren einen neuen Verein eintragen zu lassen. Der Unterschied zwischen nicht eingetragenen und eingetragenen Vereinen besteht im wesentlichen in der rechtlichen Haftung, die sich beim nicht eingetragenen Verein nicht nur auf das Vereinsvermögen, sondern auch auf das Privatvermögen der für den Verein Handelnden erstrecken kann. Der Vorstand eines eingetragenen Vereines haftet umgekehrt nicht mit seinem Privatvermögen für mögliche Schulden des Verbandes. Der Verein wird mit der Eintragung als ein Zusammenschluß von "natürlichen Personen" zu einer "juristischen Person".

Verbände haben also in der Regel die Rechtsform des eingetragenen Vereins. Ausnahmen von dieser Regel bilden die Gewerkschaften, weil sie sich dem Polizeirecht unter dem alten Bürgerlichen Gesetzbuch der Jahrhundertwende nicht unterwerfen wollten. Obwohl dieser Grund mittlerweile entfallen ist - das Vereinsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches ist längst liberalisiert worden - halten die Gewerkschaften aus diesen historischen Gründen daran fest, sich nicht als Verein eintragen zu lassen.

Zusammenfassend kann man sagen, daß Interessenverbände sozialwissenschaftlich betrachtet zu den Organisationen und zum "Dritten Sektor" der Assoziationen gehören; juristisch betrachtet gehören sie zu den Vereinen.

All diese Vereinigungen zeichnen sich durch freiwillige Mitgliedschaft, eine formale Regelung der Organisationsform und der Willensbildung - meist durch Statut oder Satzung - und programmatisch festgelegte Ziele aus. Das Besondere an Interessenverbänden unter allen anderen Vereinigungen ist die Vertretung von materiellen oder ideellen Interessen ihrer Mitglieder nach außen sowohl gegenüber dem Staat - wie beispielsweise die Bauernverbände, wenn sie Subventionen fordern - als auch gegenüber anderen Interessengruppen - wie beispielsweise die beiden Tarifparteien von Kapital und Arbeit, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, wenn Tarifauseinandersetzungen geführt werden. Die Begriffe Interessenverbände, Verbände und Interessengruppen werden in diesem Text gleichbedeutend benutzt und austauschbar variiert.

Abgrenzung

Der gesamte Bereich des "Dritten Sektors" bzw. der juristischen "Vereinigungen" umfaßt mehr als nur die Verbände. Einige Organisationen aus dieser Gruppe sollen kurz angesprochen werden, entweder, weil sie mit den Verbänden konkurrieren, sich mit ihnen überschneiden oder Sonderformen darstellen, die nicht alle Kriterien für die Definition von Interessengruppen erfüllen. Gemeint sind etwa Parteien, Kirchen oder Kammern. Durch die Abgrenzung dieser Vereinigungen, die teilweise in den Medien und im Alltag geläufiger sind als die Verbände, kann auch das Besondere der Interessengruppen deutlicher herausgearbeitet werden.

Da sind zum einen die politischen Parteien, die auch gesellschaftliche Interessen vertreten und insofern mit den Interessengruppen eng verwandt sind. Historisch gingen beide, Parteien und Verbände, aus der bürgerlichen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts hervor. Beide entstanden fast gleichzeitig. Beispielsweise waren in der frühen Arbeiterbewegung Sozialdemokratie und Gewerkschaften eng miteinander verbunden. Sie arbeiteten zusammen, aber sie konkurrierten auch miteinander darum, wer denn "die reine Lehre" verkörperte. Auch im Katholizismus gab es enge Bindungen zwischen der Zentrumspartei und den katholischen Verbänden.

Auch in den letzten 50 Jahren waren Beziehungen zwischen Parteien und Verbänden von einigen Überschneidungen geprägt. Das galt für die unmittelbare Nachkriegszeit, in der der Gesamtdeutsche Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) als eine Interessenpartei der Vertriebenen kandidierte, ebenso wie für die jüngere Zeit, als die "Grünen" sich zunächst als eine Bewegung des Umweltschutzes gründeten. Der programmatische und der organisatorische Unterschied solcher Interessenparteien zu Interessenverbänden ist sehr gering. Andererseits bleibt eine große politische und verfassungstheoretische Kluft zwischen Verbänden und Parteien bestehen: nur Parteien stellen Kandidaten für öffentliche Wahlämter auf, und nur sie werden durch den Artikel 21 des Grundgesetzes hervorgehoben.

Während Verbände juristisch gesehen in der Regel die Rechtsform eines Vereins haben, wird im Gegensatz dazu aus sozialwissenschaftlicher Sicht zwischen Vereinen und Verbänden unterschieden.

Die Organisationsforschung geht davon aus, daß Vereine wie Sport-, Gesangs-, Wandervereine oder Kegelclubs ihre Mitglieder primär für eine gemeinsame Betätigung auf meist lokaler Ebene organisieren. Sie treten nur ausnahmsweise, wenn es um öffentliche Zuschüsse, Zuweisung von Gelände für Sportanlagen oder ähnliches geht, auch als Interessengruppe nach außen in Erscheinung.

Verbände können dagegen nicht nur Zusammenschlüsse von Einzelpersonen (also im juristischen Sinne "natürlichen Personen"), sondern auch von kleinen Vereinen und damit Unterverbänden (rechtlich also von "juristischen Personen") sein. Sie dienen primär der Interessenvertretung ihrer Mitglieder (oder ihre Mitglieder-Verbände) nach außen (beispielsweise der Deutsche Fußballbund - DFB - für die kleinen Sportvereine oder der Bund Deutscher Philatelisten e.V. für die Briefmarkensammler).

Abgrenzen muß man Interessenverbände auch von Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen und lokalen Initiativen oder Projekten. Nach ursprünglicher Scheu, sich rechtlich zu binden, haben auch diese Gruppen aus dem großen Bereich der neuen sozialen Bewegungen oft die Rechtsform des eingetragenen Vereins gewählt. Zu Interessenverbänden werden sie dann, wenn sie sich zu regional übergreifenden Verbindungen oder Dachverbänden zusammenschließen, wie beispielsweise der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e.V. (BBU).

Sonderfälle

Schwieriger und in Wissenschaft und Politik umstrittener ist die Einordnung von zwei Bereichen unter die Rubrik der Verbände: den Kirchen und den Kammern. Beide sind von der Rechtsform her keine Vereine, sondern Körperschaften des öffentlichen Rechts. Nach deutschem Recht sind Körperschaften des öffentlichen Rechts Träger öffentlicher Verwaltung.

Zu ihnen zählen nicht nur die Gebietskörperschaften, also die Gemeinden, Städte und Kreise, sondern auch die sogenannten Personalkörperschaften, welche Mitglieder gleicher Interessen oder Berufe zusammenschließen. Hierzu gehören auch die Kirchen und die Kammern. Juristisch etwas kompliziert definiert werden sie als "rechtsfähige Verwaltungseinheit mit verbandsmäßiger Rechtsgestalt". Diese Körperschaften entstehen durch Gesetz oder staatlichen Hoheitsakt aufgrund eines Gesetzes. Sie können Beiträge ihrer Mitglieder erheben, erhalten aber auch staatliche Zuwendungen.

Damit haben die Kirchen und die Kammern einen Sonderstatus, der sie zumindest in Deutschland von den Interessenverbänden in der Rechtsform des Vereins mit freiwilliger Mitgliedschaft scharf unterscheidet. In anderen Ländern ist die Trennschärfe nicht so markant. Ob Kirchen bei den Interessenverbänden mitzubetrachten sind, ist in den Sozialwissenschaften umstritten.

Zunächst zu den Kirchen. Sie sind gemäß der Verfassung und noch mehr ihrem eigenen Selbstverständnis nach keine Interessengruppen. Dies verbietet schon ihre Grundüberzeugung, die kein Teilinteresse der Gesellschaft und auch kein profanes Gemeinwohl - denn das behaupten fast alle Verbände - verwirklichen zu wollen, sondern ein übergesellschaftliches, überzeitliches, ja sogar überirdisches Heil anstrebt.

Sozialwissenschaftlich betrachtet handeln Kirchen in der Gesellschaft auch wie Verbände, die bestimmbare Interessen ihrer Mitglieder und Amtsinhaber nach innen und außen durchzusetzen trachten. Sie werden deshalb hier als Sonderform von Verbänden betrachtet.

Die Kammern sind ebenfalls zwiespältig in ihrer Zuordnung, da sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts keine freiwillige Mitgliedschaft wie die übrigen Interessenverbände aufweisen. Denn alle Gewerbetreibende, Angehörige der Handwerks- oder freien Berufe sind Zwangsmitglieder etwa in der Industrie- und Handels-, Handwerks-, Anwalts- oder Ärztekammer. Die Kammern sind jedoch insofern Interessenverbände, als sie die Interessen ihrer Mitglieder nach außen wahren. Auch sind die jeweiligen bundesweiten Dachverbände keine Körperschaften des öffentlichen Rechts, sondern als eingetragene Vereine (e.V.) verfaßt - so zum Beispiel der Deutsche Industrie- und Handelstag e.V. als Dachverband der Handelskammern.

Als Zwischenfazit können wir zusammenfassen: Interessenverbände sind Organisationen im Bereich des "Dritten Sektors" angesiedelt zwischen Staat und Markt, die freiwillige Zusammenschlüsse von natürlichen (im Fall von Dachverbänden auch von juristischen) Personen sind. Sie haben eine innere Arbeitsteilung und Verfassung (Satzung, Statut) sowie gemeinsame, verbindliche, überörtliche, längerfristige Ziele (meist in Form von Programmen), auf deren Basis sie Interessen ihrer Mitglieder nach außen gegenüber dem Staat und gegenüber anderen Interessengruppen durch Mitwirkung an gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entscheidungen durchzusetzen trachten, ohne selbst für politische Mandate öffentlich zu kandidieren. Neben der Interessenvertretung nach außen spielen allerdings auch Dienstleistungen für die eigene Mitgliedschaft eine wichtige und wachsende Rolle im Aufgabenspektrum der Interessenverbände.

Diskussion um die Rolle und Funktion der Kirchen in der Gesellschaft

Auf kirchlicher Seite selbst wird zumeist damit argumentiert, daß die Glaubensgemeinschaften keine egoistischen Interessen verfolgten, sondern sich für die Verwirklichung der christlichen Botschaft einsetzten; sie seien keine Interessengruppen ihrer Gläubigen, die den einen oder anderen Aspekt ihrer gesellschaftlichen Existenz vertreten, sondern auf das Wort Gottes verpflichtete Glaubensgemeinschaften. Diese und ähnliche Argumente sind zweifellos richtig, insofern es sich um die Kirche als Glaubensgemeinschaft handelt. In dieser Eigenschaft ist sie kein Gegenstand der Verbandsforschung. Demgegenüber kann kein Zweifel daran bestehen, daß die kirchlichen Institutionen zugleich auch als Organisationen wirken, die unabhängig von ihrem eigentlichen Daseinszweck nach steuerlichen Vergünstigungen durch den Staat verlangen, gesetzgeberische Maßnahmen kritisch begleiten und unter Umständen durch massive Proteste, Vorsprachen bei den federführenden Ministern und durch dauerhafte Kontakte mit Parlamentariern die ihnen mißliebig erscheinenden Entwicklungen in der Politik zu unterbinden suchen, sogar mehr oder weniger verklausulierte Empfehlungen zur Wahl bestimmter Parteien geben - kurz, Einfluß im politischen Raum zu nehmen versuchen.

Daß die besondere Bedeutung der Kirchen in einigen Landesverfassungen der Bundesrepublik (Art. 41 der Verfassung von Rheinland-Pfalz, Art. 142-150 der Bayerischen Verfassung) und im Grundgesetz (Art. 140) eigens hervorgehoben ist, bedeutet eine Privilegierung der Kirchen, nicht jedoch ihre Anerkennung als quasi-staatliche Einrichtungen. Die juristische Argumentation greift zu kurz, weil sie die realen soziologischen Gegebenheiten außer acht läßt und die rechtliche Sonderstellung sowie das Selbstverständnis der Kirchen, nicht aber die, wie immer motivierten Aktions- und Verhaltensweisen kirchlicher Gremien im politischen Raum zum Kriterium der Debatte macht. Die Motive dieser Handlungsweisen unterscheiden sich zwar von denen anderer Interessengruppen. Doch die ”Pressure-Wirkungen”, die von den Kirchen in bestimmten Situationen ausgehen können, sind dieselben, die auch bei anderen Interessengruppen nachzuweisen sind. Das Selbstverständnis von Interessengruppen kann aber für die Verbandsforschung kein verläßliches Unterscheidungskriterium sein, denn fast alle Verbände weisen auf ihre besondere Verantwortung und Berufung, auf ihre öffentliche Funktionen oder auf sonstige Eigentümlichkeiten hin, durch die sie sich von allen anderen Interessengruppen abzuheben glauben. Auch der den Kirchen vom Gesetzgeber zugewiesene besondere Rechtsstatus ist kein Argument dagegen, die Aktivitäten der Kirchen in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik nicht auch unter die Perspektive der Verbandsforschung zu untersuchen. Denn eine Vielzahl anderer Organisationen haben - wie die Kammern, die Kassenärztlichen Vereinigungen, der Bayerische Bauernverband etc. - einen Status, der sie aus der Gruppe der übrigen Verbände heraushebt. Als Traditionsbestandteil im Verhältnis von Kirche und Staat ist ihr öffentlichrechtlicher Status nicht mit der Übertragung staatlicher Hoheitsaufgaben verbunden, sondern dient ihrer Unabhängigkeit und Freiheit im Staat und bedeutet auch letzten Endes die Anerkennung ihres umfassenden geistlichen Auftrages der Vergegenwärtigung der christlichen Dimension im Leben jedes einzelnen Menschen. Daraus kann allerdings nicht auf eine Sonderrolle im Staat geschlossen werden. […]

Das Tätigkeitsfeld, in dem die Kirche unmittelbar durch die Vertreter bzw. mittelbar über die zahlreichen in ihrem Vorfeld wirkenden Vereinigungen auf Staat und Gesellschaft durch Aufrufe, Proteste, Gutachten, Mitwirkung in Beiträgen usw. einzuwirken versucht, ist für die Verbandsforschung folglich ebenso relevant wie die Aktivitäten anderer Interessengruppen auch. Und nur unter dieser Perspektive ist es legitim, die Kirchen den Interessengruppen zuzurechnen.

Jürgen Weber, Die Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1977, S. 155-157.

Es kann nicht geleugnet werden, daß die Kirchen in der Bundesrepublik das öffentliche Leben maßgeblich mitgestalten, etwa in der Schulpolitik, in der Kulturpolitik, im Jugendarbeitsrecht und in der Jugendfürsorge, in der Sozialpolitik bis hin zum Verbot der Sonntagsarbeit und zur Einschränkung der Scheidungsgründe. Es ist auch richtig, daß der Einfluß der Kirche in die Kontrollstellen von Fernsehen, Rundfunk, Film, Zeitschriften, Literatur und in die staatliche Personalpolitik, hineinreicht, sogar soweit, daß ein Minister über das falsche Gesangbuch stürzen kann.

Dessen ungeachtet können die Kirchen in staatsrechtlicher Sicht aus zwei Gründen nicht als Interessenverbände unter alle anderen Interessenverbände eingereiht werden: Der erste Grund ist ein staatsrechtlicher, nämlich die Sonderstellung, die den Kirchen im Grundgesetz eingeräumt worden ist. Sie werden als gleichgeordnete, mit eigenen und ursprünglichen Hoheitsfunktionen ausgestattete Rechtsgemeinschaften vom Staat anerkannt. Ein zweiter Grund scheint mir in dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaften zu liegen. Die Evangelische Kirche versteht sich bekanntlich als Communio Sanctorum, die Katholische Kirche wohl als Anstalt aufgrund göttlicher Stiftung und daher als von jeder anderen Gemeinschaft unabhängige Societas Perfecta. Unter den Begriff der Interessenverbände fallen mithin hier nur die außerhalb des kirchlichen Bereichs und außerhalb des staatlichen Bereichs in Verbandform organisierten Interessenvertretungen.

Gerhard Wittkämper, Interessenverbände - notwendige und anerkannte Gruppenfilter in der modernen freiheitlichen Massendemokratie, in: Heinz Hürten (Hg.), Organisierte Interessen in Europa, Osnabrück 1996, S. 24.

Die Kirchen, jedenfalls die christlichen, lassen sich im Kern nicht als Verbände definieren. Wenngleich sie auch religiöse und ethische, oft auch soziale und politische ”Interessen” (ihrer Mitglieder) öffentlich vertreten, unterscheiden sie sich wesentlich von den üblichen Interessenverbänden. Einige funktionale Ähnlichkeiten berechtigen noch keine Gleichsetzung und Gleichbehandlung, die von jenen gefordert werden, für die Religion lediglich ein Privatinteresse bedeutet, das sich in Verbänden organisieren kann.

Im Unterschied zu den Verbänden handelt es sich bei den Kirchen um spezifische Religions- oder Glaubensgemeinschaften, die nicht erst durch den Willen ihrer Mitglieder aufgrund der Vereinigungsfreiheit konstituiert sind. Vielmehr ähneln sie einer Stiftung, deren Zweck und Programm vorgegeben und nicht beliebig verfügbar sind. Nach ihrem traditionellen, auch öffentlich respektierten Selbstverständnis haben die kirchlichen Glaubensgemeinschaften jeweils ein eigenes, mehr oder weniger dogmatisch ausgeprägtes Glaubensbekenntnis, eine eigene rechtliche Verfaßtheit und institutionelle Struktur. Wenn die Mitglieder am überlieferten religiösen Wahrheitsanspruch der kirchlichen Heilsbotschaft gläubig festhalten, impliziert das den Verzicht darauf, in eigener Souveränität religiösen Sinn produzieren und vermitteln zu wollen. In diesem Transzendenzbezug liegen auch die Grenzen innerkirchlicher Demokratisierung.

In diesem Sinne sind die Kirchen keine Verbände, sondern können unter ihrem Dach Verbände haben, die mit Billigung oder im Auftrag der kirchenamtlichen Institutionen bestimmte Aufgaben in Kirche und Gesellschaft wahrnehmen. In einem demokratischen Rechts- und Sozialstaat, der nach dem Prinzip der Subsidiarität gegliedert ist, finden die Kirchen und ihre Verbände ein hohes Maß an Freiheit und Selbstentfaltung.

Günter Triesch/Wolfgang Ockenfels, Interessenverbände in Deutschland. Ihr Einfluss in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München 1995, S. 168.

Artikel teilen:

Das könnte Sie auch interessieren: