Pressemitteilung | (AWO) Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V.

"Gute Kindheit - Schlechte Kindheit" / In jedem siebten Kinderzimmer spielt die Armut mit

(Berlin) - Alltag in Deutschland: Etwa zwei Millionen Kinder und Jugendliche kommen morgens oft ohne Frühstück in den Kindergarten und die Schule, sind wegen Fehl- und Mangelernährung häufig krank, können nicht an Ausflügen und Klassenfahrten teilnehmen und haben deutlich eingeschränkte Zukunftschancen. Das ergibt eine Studie über Armut und Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen, die von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) am 25. Oktober in Berlin vorgestellt wurde. Rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen wachsen demnach in Deutschland in Armut auf. "Armut von Kindern und Jugendlichen ist kein marginales Phänomen mehr", sagte der AWO- Bundesvorsitzende Manfred Ragati. Vielmehr seien die unter 18-jährigen die größte von Armut betroffene Gruppe in Deutschland. "Die Armut hat mittlerweile jedes siebte Kinderzimmer erreicht", sagte Ragati.

Die AWO-Studie unter dem Titel "Gute Kindheit – Schlechte Kindheit" ist die erste wissenschaftliche Untersuchung, die nicht nur statistische Zahlen zusammenfasst, sondern konkret die Lebenssituation und die Folgen für die Kinder und Jugendlichen beschreibt. In die Studie des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) waren rund 2.750 Einrichtungen der Kinder- Jugend- und Familienhilfe der AWO einbezogen - etwa die Hälfte davon waren Kindertagesstätten.

Arme Kinder sind laut Studie wesentlich häufiger verhaltensauffällig als nicht-arme Kinder. So sind rund 38 Prozent der armen Kinder in ihrem Spiel- und Sprachverhalten gestört. Sie suchen seltener den Kontakt zu anderen Kindern, nehmen am Gruppengeschehen in Kindertagesstätten eher passiv teil, äußern seltener ihre Wünsche und sind weniger wissbegierig als nicht-arme Kinder. Wegen Fehl- und Mangelernährung haben sie häufiger gesundheitliche Probleme oder sind in ihrer körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Und auch in ihren Zukunftschancen sind arme Kinder deutlich eingeschränkt. Das beginnt bereits beim Übertritt vom Kindergarten in eine Regelschule: Nur 69 Prozent der "armen" Sechsjährigen schaffen den Sprung in die Grundschule, gegenüber 88 Prozent der nicht-armen Kinder.

Die Ergebnisse der Studie rücken auch bestehende Vorurteile zurecht: Arme Kinder und Jugendliche gibt es nicht nur in den sozialen Brennpunkten der Großstädte, sondern in allen Regionen, auch auf dem Lande. Außerdem leben arme Kinder und Jugendliche überwiegend in einer "vollständigen" Familie mit beiden Elternteilen, auch wenn Alleinerziehende häufiger von Armut betroffen sind. Und auch in armen Familien sind die Väter mehrheitlich berufstätig, wenn auch Arbeitslosigkeit das Armutsrisiko dramatisch erhöht.


Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind Kinder ohne deutschen Pass, vor allem, wenn ihr Aufenthaltsstatus unsicher ist.

"Die Folgen von Armut werden zumeist erst dann bekämpft, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, etwa bei Schulversagen oder kriminellen Vergehen der Jugendlichen", sagte Ragati. Die Studie zeige, dass bereits wesentlich früher, nämlich in den Kindertagesstätten, die Kinder unterstützt und gefördert werden müssen, um eine lebenslange Armutskarriere zu vermeiden.

"Armut bei Kindern und Jugendlichen hat viele Ursachen und viele Gesichter, auf die individuell reagiert werden muss", sagte Ragati. Um die Armut wirksam zu bekämpfen, reiche es nicht aus, Familien mit geringem Einkommen finanziell besser zu stellen. Neben einer Anhebung des Kindergeldes auf 600 Mark und einer deutlichen Erhöhung des Wohngeldes fordert die AWO, arme Kinder und Jugendliche und deren Familien gezielt zu fördern und zu unterstützen. Vor allem die Betreuung in Kindertageseinrichtungen müsse ausgebaut werden. Notwendig seien Öffnungszeiten, die der Arbeitszeit der Eltern besser gerecht werden sowie mehr Personal in Einrichtungen mit hohem Anteil an armen und benachteiligten Kindern und Jugendlichen.

"Nun, da wir konkrete Zahlen kennen, muss mit den öffentlichen Kostenträgern über einen besseren Personalschlüssel verhandelt werden", so Ragati.

Die AWO fordert außerdem, Kinder und Jugendliche stärker in Entscheidungen, die sie betreffen, einzubeziehen, etwa durch Jugendforen oder Kinderkonferenzen. Kinder und Jugendliche müssen an der Jugendhilfeplanung, beim Bau von Spielplätzen und bei der Entwicklung von Kinderstadtplänen beteiligt werden.

Das Ausländer-, Asylverfahrens- und Asylbewerberleistungsgesetz produziert derzeit Armut bei ausländischen Kindern und Jugendlichen. Die UN-Kinderrechtskonvention muss nach Ansicht der AWO deshalb in vollem Umfang umgesetzt werden, Kinder- und Jugendhilfe dürfen für den Migrationsbereich in keinem Fall durch Ordnungsrecht eingeschränkt werden.

"Wir dürfen uns arme Kinder und Jugendliche in einem reichen Land einfach nicht leisten", sagte Ragati. Wer über zunehmende Gewaltbereitschaft und eine radikal-emotionale Gesinnung bei Jugendlichen rede, müsse handeln und vorbeugen. Ragati: "Dafür kann diese Studie ein Ausgangspunkt sein."

Quelle und Kontaktadresse:
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (AWO) Postfach 41 01 63 53023 Bonn Telefon: 0228/66850 Telefax: 0228/6685209

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