Verbändereport AUSGABE 2 / 2005

Europarecht: Klagebefugnis von Verbänden nach EG-Recht

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Während die Klagebefugnis von Verbänden in der Bundesrepublik weitgehend positiv-rechtlich ausgestaltet ist, enthält der EG-Vertrag in seinen den Rechtsschutz betreffenden Artikeln zur Klagebefugnis keine ausdrücklichen Bestimmungen. Es war daher Aufgabe des Europäischen Gerichtshofes, die Zulässigkeit und Voraussetzung von Verbandsklagen in einer Reihe von Leit- entscheidungen zu klären. Der folgende Beitrag stellt die Zulässigkeit und die Voraussetzungen der Verbandsklagebefugnis auf der Gemeinschaftsebene dar.

Der Verband als Adressat von EG-Maßnahmen

Keine Besonderheiten weist die Ver-bandsklagebefugnis im Gemeinschaftsrecht auf, wenn der Verband selbst Adressat einer Maßnahme der Europäischen Gemeinschaft, er also Betroffener ist. In diesen Fällen kann er als betroffener Rechtsträger wie jede natürliche Person Rechtschutz bei dem Europäischen Gerichtshof beantragen. Die Klagevoraussetzungen unterscheiden sich insoweit nicht von den allgemeinen Klagevoraussetzungen, die für alle gelten (vgl. hierzu Verbändereport Nr. 7/2004).

Der Verband als Nicht-Adressat

Differenzieren muss man hingegen bei denjenigen Fällen, in denen der Verband nicht unmittelbarer Adressat einer Gemeinschaftsmaßnahme ist. Üblicherweise werden hier Klagen zur Vertretung verbandseigener Interessen von den Klagen zur Vertretung der gemeinsamen Interessen der Verbandsmitglieder unterschieden. Ausführlich hat dies Ahrens in „Die Klagebefugnis von Verbänden im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden, 2002“, dargestellt.

Unmittelbare und individuelle Betroffenheit

Bei den Klagen zur Wahrnehmung verbandseigener Interessen, die eine nicht an den Verband adressierte Maßnahme zum Gegenstand haben, gelten die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen: Der Verband muss eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit geltend machen können, wobei nach dem Vorbild des französischen Verwaltungsprozessrechts ein „intérêt pour agir“ genügt, also eine mögliche Beeinträchtigung eines wirtschaftlichen oder ideellen Interesses. Dieses muss indes unmittelbar betroffen sein, weil der Gerichtshof auf diese Weise so genannte Popularklagen verhindern will. Unter Popularklagen versteht man Klagen, die jedermann bei Feststellung eines objektiven Rechtsverstoßes erheben kann, ohne dass er hierzu die Beeinträchtigung eigener (subjektiver) Rechte geltend machen muss.

Unmittelbar betroffen von einer EG-Maßnahme ist der Verband, wenn die behauptete Rechtsverletzung bereits durch die Maßnahme selbst – etwa eine Verordnung oder Entscheidung – und nicht erst durch einen Umsetzungsakt eintritt.

In der so genannten „Plaumann-Formel“ hat der Gerichtshof für die Klagebefugnis von Nichtadressaten folgende Doktrin zur individuellen Betroffenheit entwickelt (alle Zitate leicht gestrafft und auf neue Artikelnummerierung umgestellt):

„Wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, kann nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besondere, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“. (Rechtssache 25/62, Sammlung 1963, Seite 211 (238)).

Klagen im Kollektivinteresse

Anders sieht es bei Klagen aus, die der Verband zur Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen der Verbandsmitglieder führen will. Hier wird üblicherweise zwischen egoistischen und altruistischen Verbandsklagen unterschieden. Bei egoistischen Verbandsklagen beabsichtigt der Verband, die wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder gerichtlich geltend zu machen; bei altruistischen Verbandsklagen will er dagegen nur ideelle oder am Gemeinwohl orientierte Interessen wahrnehmen. Letztere können beispielsweise allgemeine Verbraucher- oder Umweltinteressen betreffen.

Egoistische Verbandsklagen

Bei den egoistischen Verbandsklagen reicht es grundsätzlich zur Begründung der Klagebefugnis nicht aus, dass sich der Verband allein auf die Beeinträchtigung der Kollektivinteressen der Verbandsmitglieder beruft. Hierzu hat der Gerichtshof in der „Union syndicale“-Entscheidung ausgeführt:

„Im Klagesystem des (EG-) Vertrages kann im Sinne des Artikels 230 eine natürliche oder juristische Person, die nicht Adressat der angefochtenen Maßnahme ist, nur dann geltend machen, von dieser individuell betroffen zu sein, wenn die Maßnahme sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten. So gesehen lässt sich nicht die Ansicht halten, dass eine zur Verteidigung von Kollektivinteressen einer Personengruppe gegründete Vereinigung von einer die allgemeinen Interessen dieser Gruppe berührenden Maßnahme unmittelbar und individuell betroffen wird“.

In diesem von der Union syndicale geführten Prozess hatten sich Gewerkschaften der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst der Gemeinschaften gegen eine Verordnung des Rates zur Regelung der Dienstbezüge wehren wollen. Der Gerichtshof hatte in dem Zitat zunächst auf die Plaumann-Formel Bezug genommen, um sie dann für den vorliegenden Rechtsstreit hinsichtlich der Wahrnehmung von Kollektivinteressen näher zu konkretisieren (Rechtssache 72/74, Sammlung 1975, Seite 401 (409)).

Allerdings hat der Gerichtshof bei der grundsätzlichen Verneinung der Zulässigkeit von egoistischen Verbandsklagen zur Wahrnehmung verbandlich repräsentierter Kollektivinteressen Ausnahmen zugelassen. Diese Ausnahmen betreffen einerseits die Fälle einer zulässigen Prozessstandschaft, andererseits die Zulässigkeit der egoistischen Verbandsklage bei Vorliegen einer Verfahrensbeteiligung oder eines sonstigen Beteiligungsrechts des Verbandes.

Prozesstandschaft

Prozessrechltich wird unter einer Prozesstandschaft die prozessuale Geltendmachung fremder Rechte verstanden. Der Gerichtshof lässt eine solche Prozesstandschaft bei egoistischen Verbandsklagen zu, wenn der Verband zwar in eigenem Namen klagt, hierbei aber auch die Interessen eines oder mehrerer Mitglieder geltend macht, die ihrerseits durch die angegriffene Maßnahme selbst unmittelbar und individuell betroffen sind. In einem solchen Fall, in dem ein italienischer Verband von Zementherstellern gegen eine Kommissionsentscheidung geklagt hatte, mit der staatliche Subventionen zugunsten eines griechischen Wettbewerbsunternehmens genehmigt worden waren, hat der Gerichtshof unter anderem ausgeführt:

„Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Klägerin die individuellen Interessen einiger ihrer Mitglieder wahrgenommen und gleichzeitig versucht hat, die Interessen des gesamten Sektors zu schützen. (…) Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei der Erhebung ihrer Klage an die Stelle von mindestes drei ihrer Mitglieder getreten ist, die nach dem Inhalt der Klageschrift selbst eine zulässige Klage hätten erheben können. Im vorliegenden Fall bietet die Erhebung einer gemeinsamen Klage über den Verband somit verfahrensmäßige Vorteile, da durch sie die Erhebung einer größeren Zahl verschiedener Klagen gegen die selben Entscheidungen verhindert werden kann, ohne dass Artikel 230 EG-Vertrag durch eine solche gemeinsame Klage umgangen zu werden droht“.

Ähnlich wie im deutschen Prozessrecht spielen also für die Zulässigkeit einer Klage im Prozesstandschaft prozessökonomische Gründe eine ausschlaggebende Rolle.

Klagebefugnis von Verbänden mit Verfahrensbeteiligung oder eigenen Beteiligungsrechten

Der Gerichtshof erkennt eine eigene Klagebefugnis von Verbänden bei der Wahrnehmung von Kollektivinteressen seiner Mitglieder ausnahmsweise dann an, wenn die Verbände an dem vorausgegangenen Verfahren aktiv beteiligt waren oder ihnen durch Verordnung, Richtlinie oder Entscheidung ein eigenes Beteiligungsrecht ausdrücklich eingeräumt worden ist.

Solche Konstellationen ergeben sich primär im Wettbewerbs-, Außenhandels- und Beihilfenrecht. Das Merkmal der individuellen Betroffenheit wird in diesen Fällen also nicht sachlich-rechtlich, sondern prozessual über die Verfahrensbeteiligung oder das Bestehen eines eigenen Beteiligungsrechts begründet. Der Gerichtshof hat in einem Verfahren, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer nationalen Beihilfe ging, in dem ein französischer Verband, ein „comité industriel“ (CIRFS), als Kläger aufgetreten ist, folgende Grundsätze aufgestellt:

„Es steht fest, dass das CIRFS, ein Verband, in dem die wichtigsten internationalen Hersteller von Kunstfasern zusammengeschlossen sind, in deren Interesse und Bezug auf die Umstrukturierung dieses Sektors in vielfacher Weise tätig geworden ist. Es war insbesondere bei der Festlegung der Beihilfendisziplin sowie bei ihrer Verlängerung und Anpassung Gesprächspartner der Kommission. Das CIRFS führte außerdem im Vorverfahren zu diesem Rechtsstreit aktiv die Verhandlungen mit der Kommission, namentlich indem es schriftliche Bemerkungen vorlegte und enge Kontakte zu den zuständigen Dienststellen hielt. Die angefochtene Entscheidung betrifft also das CIRFS in seiner Eigenschaft als Verhandlungsführer bei der Ausarbeitung der Beihilfendisziplin. Die Klage ist somit, soweit sie vom CIRFS erhoben worden ist, zulässig“.

Altruistische Verbandsklagen bei der Geltendmachung von Allgemeininteressen

Die Klagebefugnis von Verbänden, die prozessual lediglich allgemeinpolitische Interessen geltend machen, ist vom Gerichtshof bisher stets verneint worden. Als Grundsatzurteil kann insoweit die „Greenpeace“-Entscheidung angesehen werden (Rechtssache C-321/95, Sammlung 1998, I-1651). Hier hatte sich Greenpeace International zusammen mit einigen anderen Umweltschutzverbänden gegen eine Entscheidung der EG-Kommission gewandt, die ein regionales Entwicklungsvorhaben auf Gran Canaria und Teneriffa betraf. Das Gericht 1. Instanz hatte die Klage wegen mangelnder Klagebefugnis abgewiesen. Im Rechtsmittelverfahren hat der Europäische Gerichtshof hierzu ausgeführt:

„Dazu hat das Gericht 1. Instanz zunächst festgestellt, dass sich die von den Klägern angeführte objektive Eigenschaft als „Ortsansässiger“, „Fischer“ oder „Landwirt“ oder aber als Person, die wegen der möglichen Folgen der Errichtung zweier Elektrizitätswerke für den örtlichen Fremdenverkehr, die Gesundheit der Bewohner der Kanarischen Inseln und die Umwelt besorgt sei, nicht von der Eigenschaft aller Personen, die in dem betreffenden Gebiet wohnten oder eine Tätigkeit ausübten, unterscheide und dass die Kläger mithin von der angefochtenen Entscheidung nur in gleicher Weise betroffen sein wie jeder andere Einwohner, Fischer, Landwirt oder Tourist, der sicht tatsächlich oder potenziell in der gleichen Situation befinde. (…) Was die Klagebefugnis der Kläger, die Vereinigungen sind, betrifft, so hat das Gericht (1. Instanz) auf die ständig Rechtsprechung verwiesen, wonach eine Vereinigung, die zur Wahrnehmung kollektiver Interessen einer Gruppe von Bürgern gegründet worden sei, von einer Handlung, die die allgemeinen Interessen dieser Gruppe berühren, nicht im Sinne des Artikels 230 Absatz 4 EG-Vertrag individuell betroffen sein könne; sie könne daher keine Nichtigkeitsklage erheben, wenn ihren Mitgliedern als einzelnen die Erhebung dieser Klage verwehrt sei (…).“

Diesen Ausführungen ist der Gerichtshof auch in der Rechtsmittelinstanz beigetreten. In solchen Fällen, in denen Verbände weder in Prozessstandschaft noch über eine eigene Verfahrensbeteiligung oder durch die Einräumung von expliziten Beteiligungsrechten klagebefugt sind, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, über die nationalen Gerichte Rechtschutz zu erlangen. Hierauf hat der Gerichtshof in der genannten Entscheidung eigens hingewiesen.

Zusammenfassung

Verbände besitzen eine eigene Klagebefugnis vor dem Europäischen Gerichtshof, wenn es sich um gegen sie adressierte Maßnahmen der Europäischen Institutionen handelt. Bei Maßnahmen, die nicht gegen den Verband als solchen adressiert sind, können sie klagen, wenn die Voraussetzungen einer zulässigen Prozessstandschaft gegeben sind. Ferner haben sie eine eigene Klagebefugnis, wenn sie sich an dem der Maßnahme vorausgegangenen Verfahren aktiv beteiligt haben oder ihnen explizit durch das Sekundärrecht eigene Beteiligungsrechte eingeräumt worden sind. Zur Wahrnehmung allgemeinpolitischer Belange haben sie keine eigene Klagebefugnis, weil das EG-Recht wie das deutsche Recht keine allgemeine Popularklage kennt.

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Autor/in

Helmut Martell

ist Rechtsanwalt. Helmut Martell war Gründungsvorsitzender der DGVM und zwanzig Jahre ihr Stellvertretender Vorsitzender. Von 1997 bis 2014 fungierte er als Herausgeber des Verbändereport.