Verbändereport AUSGABE 6 / 2023

Mitarbeiter gewinnen und halten

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Alle suchen neue Mitarbeiter und wundern sich, warum sie keine finden. Zugleich haben wir es mit einer Generation zu tun, die angeblich von der Schulbank direkt ins Sabbatical rutschen will und den Modebegriff Work-Life-Balance wie eine Monstranz vor sich herträgt. Was läuft hier falsch, und was kann man tun?

Der Kern liegt im Verhältnis zu Arbeit selbst begründet. Vor der industriellen Revolution waren Arbeit und Leben nicht voneinander getrennt. Wohnen, Arbeiten, Leben gehörten für die meisten untrennbar zusammen. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden diese Bereiche zeitlich und räumlich schrittweise getrennt; es bildete sich das Proletariat heraus. Arbeit wurde dem Menschen entfremdet, unmenschlich, sogar tödlich. Gewerkschaften haben Jahrzehnte gekämpft, um die Bedingungen wieder menschlicher zu gestalten – das Problem aber blieb. Es konnte sich parallel ein Bewusstsein entwickeln, das auch heute noch tief in den Köpfen der Menschen verankert ist: Arbeit ist ein notwendiges Übel. Darum müssen wir versuchen, sie zeitlich zu minimieren, um den zeitlichen Anteil des eigentlichen Lebens zu maximieren. Nach 1945 kam der Leistungsgedanke hinzu: Wer viel arbeitet, kann sich auch viel leisten, insbesondere Materielles.

Sinn ist alles

Psychologen, allen voran der aus Ungarn stammende Mihaly Csikszentmihalyi, haben Erstaunliches herausgefunden. Es lässt sich mit dem Begriff Sinn zusammenfassen: Wenn ein Individuum einer Tätigkeit nachgeht, welche seinen individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Neigungen und Intentionen entspricht, dann empfindet dieses Individuum eine Reihe positiver Gefühle. So stellt Csikszentmihalyi in seinem Besteller „Flow“ fest: „Menschen, die ihr Leben sinnvoll finden, haben gewöhnlich ein Ziel, das herausfordernd genug ist, um all ihre Energie in Anspruch zu nehmen, ein Ziel, das ihrem Leben Bedeutung verleiht.“ Der letzte Teilsatz ist, bezogen auf die Arbeit, der wichtigste: Das Individuum ist nicht mehr abgekoppelt von ihr, sondern weiß, dass es durch sein Tun dem Leben Sinn verleiht. Wenn der Einzelne als Teil einer sozialen Gemeinschaft etwas für diese bewirkt, dann hat sein Leben eine Bedeutung. Wer seine Arbeit nicht nur als Broterwerb und notwendiges Übel betrachtet, sondern als sinnvoll, braucht wenig bis keine Anreize von außen, keine Zeiterfassung, keine unwirksamen Motivationen und wenig bis keine Führung.

Einstellungen von vorgestern

Die Erkenntnisse der Psychologen schlagen sich jedoch nicht im Einstellungsprozess nieder. Noch immer gehen die meisten Arbeitgeber wie selbstverständlich davon aus, dass Arbeit zwar notwendig, aber weiterhin ungeliebt sei. In Stellenausschreibungen finden wir fachliche und persönliche Anforderungen. Diese bilden ein festgefügtes Schema, ein Raster. Bewerber, so sie denn gefunden sind, müssen notwendig einen Teil ihrer Individualität abschneiden, um in dieses Korsett zu passen. Das von kaum jemandem hinterfragte Beispiel: Teamfähigkeit. Es gibt Spezialisten, die sind nicht teamfähig – wie immer man auch diesen abstrakten Begriff deutet. Sie sind aber hoch motiviert, wenn es um eine meist hoch spezialisierte, IHRE Tätigkeit geht. Im Bewerbungsprozess fallen sie dann raus, weil sie eben nicht teamfähig sind. Falls diese Bewerber dennoch die Arbeit annehmen, wirken vom ersten Tag an ungewollte Kräfte. Die Neuen müssen sich anpassen; dadurch verbiegen sie ihre Persönlichkeit. Dies führt wiederum zu Spannungen und Abwehrhaltungen, derer sich die Einzelnen meist nicht bewusst ist. In der Folge leisten sie weniger, als sie könnten. Zugleich sinken Zufriedenheit und die Bindung an den Arbeitgeber. Aufseiten des Unternehmens muss nun Druck aufgebaut werden. Oder man greift zu Motivationsmaßnahmen, die mittel- und langfristig jedoch nutzlos, weil sie extrinsisch gesteuert sind. Im Extremfall steht am Ende die innere oder wirkliche Kündigung. Der gesamte Prozess muss und kann anders laufen.

Individualspezifisch suchen und finden

Im ersten Schritt wird die zu besetzende Stelle nicht bis ins Detail, sondern nur vage beschrieben. Im zweiten werden die Persönlichkeiten der Bewerber mithilfe psychologischer Tests analysiert. Dazu gibt es die bewährten „Big Five“ und das „Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung“. Im dritten Schritt wird die Stelle, im Rahmen der Möglichkeiten, an das Individuum angepasst. Wer jetzt entsetzt denkt, das geht doch nicht … Doch, es geht. Viele Unternehmen, zum Beispiel Microsoft Deutschland, gehen genauso seit Jahren vor. Weil sie wissen, dass es für beide Seiten grandiose Vorteile hat. Die Arbeitnehmer handeln parallel zu ihrer Persönlichkeit. Sie arbeiten sinnvoll und benötigen keine kurzfristige Motivation oder Maßnahmen aus dem Werkzeugkoffer Führung. Dadurch fühlen sie sich auch an die Organisation gebunden. Diese kann weitgehend Führung und teils restriktive Maßnahmen minimieren oder ganz einstellen.

Arbeitgeber, die Mitarbeiter mit diesen Schritten suchen, finden und an sich binden, realisieren nicht nur die gesuchte Win-win-Situation. Sie verwirklichen auch – quasi nebenbei – die naturgegebene Einheit aus Mensch und Arbeit. Damit heben sie die unnatürliche Trennung auf und bringen Arbeit und Leben in die so viel beschworene Balance. Apropos: Der Modebegriff von der Work-Life-Balance impliziert, dass Leben und Arbeit zwei voneinander getrennte Dinge sind, die ins Gleichgewicht zu bringen seien. Er resultiert aus der bereits genannten tiefsitzenden Einstellung. Zugleich setzt er voraus, dass Arbeit kein richtiges Leben sei und dies erst danach begänne. Csikszentmihalyi hat bereits vor Jahrzehnten dieses Phänomen als Paradoxon der Arbeit benannt: „Bei der Arbeit fühlen sich die Menschen geschickt und herausgefordert und daher glücklicher, stärker, kreativer und zufriedener. In der Freizeit haben sie im allgemeinen nicht viel zu tun, und ihre Fähigkeiten bleiben ungenutzt, daher fühlen sie sich traurig, schwach gelangweilt und unzufrieden.“ Gleichzeitig benennt der Psychologe auch einen wesentlichen Grund dafür: „Statt uns dabei zu helfen, unsere Ziele zu erreichen, wird von uns gefordert, die Ziele anderer zu erfüllen. Die bei einer solchen Arbeit verbrachten Stunden werden als Zeit betrachtet, die einem vom Leben abgezogen werden.“ Jetzt wird klar, warum die beschriebene Schrittfolge der Mitarbeitersuche die Basis ist, um das Paradoxon aufzulösen. Wenn Mitarbeiter in und mit einer Organisation ihre individuellen Ziele erreichen können, arbeiten sie im eigenen Interesse. Dazu muss man diese jedoch erst einmal kennen.

Generation Zankapfel

Sie ist Aufreger und Wundertüte in einem. Viele fragen sich haareraufend: Was wollen die wirklich? Jenseits von Klischees, Stereotypen und extremen Einzelbeispielen geben Studien Antwort. Als übergreifende Merkmale haben sich folgende herausgebildet: Die besagte Generation ist in Überfluss und „Krisen“ hineingeboren. Die meisten wuchsen extrem behütet auf, besitzen ein starkes Selbstbewusstsein, aber eine schwache Persönlichkeit. Sie sind digital affin, stark (oberflächlich) vernetzt und nutzen vielfältige Fluchtmöglichkeiten ins Virtuelle. Dabei häufen sie kleinteiliges Wissen an, ohne ein tiefergehendes Verständnis von Zusammenhängen zu besitzen.

Die alles entscheidende Frage lautet, was sie wollen: einen sicheren Arbeitsplatz statt Karriere im negativen Sinn durch Selbstausbeutung. Mehr Urlaub statt Prämien, denn Menschen gewöhnen sich sehr schnell an das Mehr. Sie wollen sich selbst entfalten, zu einer Gemeinschaft dazugehören und alles „richtig machen“. Wer hier Widersprüche entdeckt, sieht richtig. Die psychologische Erklärung dafür ist relativ einfach, ohne zu vereinfachen. Menschen jeden Alters befinden sich permanent in einem Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen Autonomie und Zugehörigkeit. Weil viele Vertreter dieser Generation erlebten, dass beide Bedürfnisse auf sehr wackligen Füßen stehen, pendeln sie permanent zwischen beiden hin und her.

In der nur scheinbar homogenen Generation lassen sich zwei Gruppen ausmachen, die als Wachteln bzw. Pinguine bezeichnet werden. Wachteln stammen aus der gut situierten Ober- bzw. Mittelschicht. Sie vereinen die meisten Klischees der gesamten Generation: ein überbordendes Selbstbewusstsein, globales statt lokales Denken, Weltverbesserungsgedanken in einer Gruppe Gleichgesinnter. Als Personifikation dieser Teilgruppe ist Luisa Neubauer ein präsentes Beispiel. Die Pinguine hingegen stammen eher aus der Mittel- bzw. Unterschicht. Sie sind in der Gruppe stark, wollen stärkere Grenzen und Regeln, sind eher konservativ eingestellt und streben daher den Status-quo-Erhalt an.

Schräge Vögel binden

Dieses ornithologische Wissen können Unternehmen in drei Schritten nutzen. Im ersten ist der Ausbildungsplatz bzw. die Stelle mit jenen Zielen auszuschreiben, welche die gewünschte Teilgruppe hat. Wer sich aufmerksam umsieht, merkt: Da wird einiges falsch gemacht. Ein Beispiel dafür ist der Begriff „Karriere“. Das werbende Unternehmen versteht hierunter individuelle Entwicklung; die Jungen assoziieren eine veraltete Vorstellung vom mühsamen Aufstieg.

Im zweiten Schritt ist die Persönlichkeit des Einzelnen zu analysieren, zum Beispiel mit dem bereits genannten Werkzeug. Im dritten wird der Ausbildungs- bzw. der Einsatzbereich im Rahmen der Möglichkeiten (!) an das analysierte Individuum angepasst. Wer jetzt entsetzt ruft: „Was soll ich denn noch alles machen?“, bedenke die Vorteile. Menschen mit einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, der dem Anzug von der Stange gleicht, fühlen sich unwohl, denn es zwickt und zwackt; gehört irgendwie nicht zu mir. Menschen mit einem maßgeschneiderten Arbeitsplatz hingegen haben weitaus weniger Motive, sich etwas anderes zu suchen. Und wer nun das Ins­trumentarium der Psycholinguisten nutzt, deklariert die Stelle entsprechend den analysierten Persönlichkeitsmerkmalen.

Einige ketzerische Gedanken noch zum Umgang mit der Generation Z: Vielleicht zeigt sie uns ja, dass die letzten zweihundertfünfzig Jahre widernatürlich waren. Vielleicht hat sie verstanden, dass Leben und Arbeit zusammengehören und die berühmten zwei Seiten der Lebens-Medaille sind. Vielleicht hält sie uns ja den Spiegel vor und sagt uns gnadenlos, dass die Generationen vorher die natürliche Verbindung zugunsten einer schlechteren Lebensqualität getrennt haben.

Mitarbeiter halten

Wenn Zeit und viel Geld investiert werden, um Mitarbeiter zu finden, dann lässt dieses Engagement meist sehr schnell nach, wenn sie integriert sind. Die haben jetzt zu funktionieren, denn sie sind ja eingegliedert. Ab und an testen Mitarbeiter-Gespräche, ob es Störungen im Ablauf gibt. Aufgesetzte und dadurch wirkungslose Teambildungs-Maßnahmen ersetzen wirkliche Arbeit mit Gruppen. Wenn es gar nicht anders geht, müssen härtere Maßnahmen her. Dies alles führt aber zu einer Unternehmenskultur, die kon­traproduktiv ist und den Wechselwillen stärkt. Was also tun?

Menschen sind soziale Tiere und wollen darum Teil einer sozialen Gemeinschaft sein. Wir erleben unsere Arbeit dann als besonders sinnstiftend, wenn unser Tun anderen Menschen etwas bietet. Zudem wollen wir Rückmeldungen. Arbeitgeber müssen also den Mitarbeitern immer wieder klarmachen, welchen Nutzen ihr Handeln für andere Menschen innerhalb und außerhalb der Organisation hat. Lob und Anerkennung erfolgen unmittelbar. Organisationen vermitteln das Gefühl: Du bist Teil einer starken Gemeinschaft. Ohne Dich läuft alles weitaus schlechter. Das ist unterm Strich wirkungsvoller, vor allem aber weitaus preiswerter als Maßnahmen, die nicht ehrlich gemeint sind.

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Autor/in

Jens Kegel

ist Coach (univ.) für Führungskräfte, Trainer, Kommunikationsexperte und Autor. Er studierte Germanistik, Geschichte, Pädagogik und Psychologie. Nach zwei Staatsexamen, einem Fernstudium „Werbetexten“ und einem Promotionsstudium arbeitet er als Freiberufler für Unternehmen, Verbände, Führungskräfte.

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